Bluesmobil

Das erste Auto, mit dem ich unsere Gegend unsicher machte, war kein Pink Cadillac, kein Black Trans-Am, auch kein Opel Kadett, ganz schlicht als Coupé, sondern ein Ford Taunus, Baujahr 71, mit vier Türen, runden Lampen und - Liegesitzen! Na gut, sie hatten die Farbe von toten Motten, aber sie ließen sich so weit nach hinten kurbeln, dass man mit dem Kopf schon fast auf der Straße lag - was ohnehin kein Problem war, da das Bodenblech aussah wie der Durchschlag, in dem meine Mutter immer die Nudeln abtropfen ließ.

Als ich mich das erste Mal hineinsetzte, hatte ich den Eindruck, die Motorhaube berühre den Horizont und in dem Fußraum vor dem Beifahrersitz könne man bequem eine Partie Krocket spielen. Eine ausreichende Belüftung war aufgrund der oben erwähnten Beschaffenheit des Bodenblechs auch im Hochsommer kein Problem, und die uralten Dreipunkt-Gurte sorgten für eine gewisse nostalgische Anmutung und für den nötigen Nervenkitzel beim dichten Auffahren. Der Taunus schaffte immerhin 140 Stundenkilometer, wobei er von null auf hundert in einer Zeit knapp unter fünf Minuten beschleunigte.

Wenn ich bei gutem Wetter das Fenster herunterkurbelte, den Ellenbogen in die Sonne legte, die Welt nur noch durch meine billige Sonnenbrille sah und aus dem Kassettenrekorder auf dem Rücksitz diese kleine alte Band aus Texas mit She don't love me, she loves my automobile! dröhnte, kam ich mir vor wie Jake und Elwood in einer Person, und nicht selten hörte man mich bei Sonnenuntergang murmeln: »Es sind dreiundzwanzig Kilometer bis Dortmund, ich habe einen vollen Tank und ein halbes Päckchen Schokoladenzigaretten, es ist dunkel und ich trage eine Sonnenbrille! Im Palace Hotel Ballroom wartet keine Sau darauf, dass ich Minnie the Moocher singe, und in einen weißen Smoking passe ich ohnehin nicht. Hit it man!«

Zu meinem neunzehnten Geburtstag ließen sich ein paar Freunde etwas ganz Besonderes für meinen Wagen einfallen. Von der Party im elterlichen Schrebergarten wurde ich gegen Mitternacht abgeführt, hinter einer Hecke sprang Jemand mit einem Radiorekorder auf der Schulter hervor und es dröhnte Heaven's in the back seat of my cadillac durch die Dunkelheit. Man verband mir die Augen und nahm mich bei der Hand. Es wurde viel gekichert und gesungen. Als man mir die Augenbinde wieder abnahm, stand ich vor meinem Bluesmobil, das Rallyestreifen aus weißem Klebeband trug, einen Fuchsschwanz an der Antenne und meine Initialen in geschwungenen Lettern im rechten unteren Bereich der Windschutzscheibe. Auf der hinteren Ablage erkannte ich endlich den von mir lang ersehnten gehäkelten Klorollenüberzug in Altrosa sowie ein schmutzigrotes Kissen, auf dem mit Edding meine Autonummer geschrieben stand. Daneben der klassische Wackeldackel. Am Armaturenbrett prangten eine Christophorus-Plakette und ein kleines Groschengrab mit Parkmünzen, vom Innenspiegel baumelte ein ganzer Strauß von Duftbäumen. In das etwa zwei Männerhände große Loch im linken Kotflügel waren Gänseblümchen gepflanzt. Es schüttelte mich und ich war gerührt.

Man hat ja schon von kuriosen Defekten bei alten Autos gehört, aber ich glaube, mit einem Ereignis liegt der Taunus ganz vorne in den Charts: Ich stand in Bochum an der Ampel Massenbergstraße/Kurt-Schumacher-Platz und wollte nach links auf den Ostring einbiegen, als beim Einlegen des ersten Ganges der Schaltknüppel in der Mitte durchbrach.

Ich besorgte mir vom Schrottplatz einen anderen Schaltknüppel und kriegte ihn auch montiert, interessanterweise konnte ich das Ding aber nun nach Belieben abnehmen und während der Fahrt auf die unter mir herziehende Straße blicken. Gerade bei jungen Frauen kam das riesig an, wenn man in den Dritten schaltete, plötzlich den Knüppel in der Hand hatte und verdutzt tat. Kriegte man dann zu hören: »Lass mich sofort an der nächsten Ecke raus!«, konnte es nichts werden zwischen der betreffenden Frau und mir. Blieb sie ruhig und sagte: »Das ist aber interessant! Ist das Graue da unten der Asphalt?«, lagen Liebe und Erotik in der Luft. Der Taunus wurde so zu einem unverzichtbaren Berater in Liebesdingen.

Und beinahe wäre ich im Taunus sogar entjungfert worden. Der Rücksitz bot genügend Platz, und tatsächlich schaffte ich es bei Carola unter den Pullover und bis zum Saum ihrer Unterhose, dann aber griff sie mir gleichsam ins Steuer und meinte: »Mehr gibt's nur in einem richtigen Auto!«

Das war der Punkt, an dem ich beschloss, Karriere zu machen. Heute habe ich einen Wagen, in dem man das, was Carola mir seinerzeit verweigerte, durchaus erledigen könnte, aber ich bin nicht mehr gelenkig genug.

Drei Jahre währte unsere Liebe, dann hieß es Abschied nehmen. Irgendwann winkte Jeder Schweißer und Schrauber ab, wenn ich bat und bettelte, den komatösen Taunus wieder ins Leben zu schweißen und zu schrauben. Ich fuhr ihn schließlich zu ebenjenem Schrottplatz, wo ich den Ersatzknüppel besorgt hatte, und übergab ihn einem Mann, der meinte, er werde sich um ihn kümmern. So muss es sein, wenn man seine Verwandten im Heim abgibt, dachte ich. Nie war der Begriff »Autofriedhof« passender, und tatsächlich verdrückte ich auch das eine oder andere Männertränchen.

Am Eingang zum Gelände drehte ich mich noch einmal um und noch heute meine ich zu sehen, wie seine runden Scheinwerfer zum Abschied ganz kurz aufleuchteten.

 

Radio Heimat
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